01.08.2022 – Kategorie: Handel
Multiversum: Wie Einzelhändler Inflation und Digitalisierung bewältigen können
Der Einzelhandel steht vor neuen Herausforderungen. Ob durch Pandemie, E-Commerce oder Inflation und deren Folgen. Immer stärker wird der Ruf nach einem Strukturwandel, um die Zukunftsfähigkeit des stationären Handels zu sichern. Das Multiversum, das On- und Offline-Welt zusammenbringt, könnte die Lösung sein.
Die Lockdowns in der Pandemie und Lieferengpässe prägen den Status Quo im Einzelhandel seit nunmehr über zwei Jahren. Hinzu kommt jetzt auch noch der fallende GfK-Konsumklima-Index als Folge der galoppierenden Inflation. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland Stefan Genth mahnte bereits zu Beginn des Jahres, viele Betriebe im stationären Handel würden in diesem Jahr um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen. Rückläufige Umsätze hinterlassen rote Zahlen in den Bilanzen, was wiederum Investitionen erschwert. Und zugleich den Ruf nach staatlichen Hilfen zur Arbeitsplatzsicherung lauter werden lässt. Umso dramatischer die Lage für viele Einzelhändler wird, desto mehr zeichnet sich die Notwendigkeit einer fundamentalen Neuausrichtung ab, wie sie das Multiversum bieten könnte. Der boomende Onlinehandel, dessen Branchenverband (bevh) einen Umsatzrekord für das Jahr 2021 von fast 100 Milliarden verkündete, zeigt indes das große Absatzpotenzial für innovative Handelskonzepte. Und diese sind keinesfalls nur dem E-Commerce vorbehalten.
Multiversum: Der stationäre Handel braucht Gestaltungswillen
Doch um neue Ideen umzusetzen und wieder mehr Kunden zu erreichen, braucht die Branche proaktiven Gestaltungswillen. Denn an Ansätzen für Verbesserungen mangelt es nicht. Der soziale Kontakt spielt für immer mehr Kunden eine zunehmend wichtige Rolle beim Einkaufserlebnis. Anlässlich der Munich Creative Business Week hat rpc dazu eingeladen, Retail neu und ganzheitlich zu denken. Und noch konsequenter an den Bedürfnissen der Kunden und Nutzer auszurichten. Damit geht die starke Erwartung vieler Verbraucher an eine kompetente und persönliche Beratung im Ladengeschäft einher. Ein immanenter Vorteil gegenüber der konkurrierenden Onlineshops.
Dass für 60 Prozent der Befragten das Treffen mit Freunden und Familie als Motiv für den Innenstadtbesuch wichtiger geworden ist, belegt die neue Bedeutung des Einzelhandels nicht nur als bloße Verkaufsstätte, sondern auch als soziales Forum. Die persönliche Begegnung, der enge Dialog mit dem Kunden über dessen individuelle Wünsche und die Kreation eines hybriden Raumes, der das Shopping-Erlebnis auch in seinen sozialen Kontext einbettet, sind nur einige der Zutaten für die Wiederbelebung eines modernen Einzelhandels.
Wie der Einzelhandel seine Kernkompetenzen ausspielen kann
Der Einzelhandel ist dort am stärksten, wo er nicht nur ein Produkt liefert, sondern zugleich Inspiration und Neuentdeckungen fördert. Die zunehmende Warenverfügbarkeit, die der wachsende Onlinehandel bietet, gilt für viele Deutschen nach der Pandemie schon als das „New Normal“. Der Mehrwert des Einzelhandels entsteht indes dann, wenn statt monokultureller Angebot, ein vielseitige Umgebung entsteht, die Gastronomie, Veranstaltungen und kreative Storegestaltung verbindet. Denn angesichts rasant steigender Miet- und Immobilienpreise in den Wohnungen der deutschen Metropolen wird das Third Place Living, also das Leben in den öffentlichen Räumen an Bedeutung gewinnen.
Während das eigene Zuhause kleiner wird, wächst ein neuer Stellenwert für das gemeinschaftliche Leben und Erleben im urbanen Raum heran. Politik, Verwaltung und auch dem Einzelhandel obliegt es gemeinschaftlich diesen Trend zum Anlass zu nehmen, um eine Trendwende zur Aufwertung der Innenstädte in all ihren Funktionen einzuleiten. In einer Paneldiskussion von rpc im Rahmen der MCBW rief Immobilienexperte Michael Ehret von der Ehret+Klein GmbH dazu auf, durch Schaffung innovativer Immobilienangebote neue Bedarfe zu kreieren. Warum werden Besprechungsräume in innerstädtischen Büros nur an wenigen Stunden des Tages genutzt? Warum kann man nicht von 7 bis 9 Uhr einen Yoga-Kurs und ab 19 Uhr eine Sprachschule anbieten? Dazu Michael Ehret: „Je weniger privaten Raum man besitzt, desto mehr öffentlichen Raum braucht man.“
Nachhaltigkeit und regionale Verantwortung des Handels stärken
Doch nicht allein der wirtschaftliche Anpassungsdruck weist auf den Weg in einen modernisierten Einzelhandel im Retail Multiversum. Auch gesamtgesellschaftliche Herausforderungen verlangen ein Umdenken. Mittlerweile achtet ein Großteil der deutschen Verbraucher beim Einkauf auf Nachhaltigkeit. Verpackungen ohne Plastik, eine verträgliche CO2-Bilanz, faire Arbeitsbedingungen. Es gibt viele Stellen, an denen Einzelhändler in ihrer Produktauswahl Nachhaltigkeit stärken können. Netzwerke mit lokalen Produzenten führen zudem zu einer Verankerung des Einzelhandels in seiner Region. Wer das Geschäft nicht nur als Warenlager, sondern als kommunikativen Raum versteht, sollte diesen nutzen, um nicht nur über Qualität, sondern auch über Herkunft, Herstellungsprozesse und Purpose aufzuklären.
Die Transformation zum Retail Multiversum – eine Existenzfrage
Die aktuelle Lage des Einzelhandels und seine ungewisse Zukunft zeigen, wie dringend interdisziplinäre Innovationen für die Branche sind. Doch den großen Herausforderungen stehen ebenso vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten im Multiversum für einen proaktiven Strukturwandel gegenüber. Dieser ist notwendig, nicht nur um die Existenz des stationären Einzelhandels und der damit verbundenen Arbeitsplätze zu sichern, sondern auch um gesellschaftliche Aufgaben wie Nachhaltigkeit, die Vernetzung von Stadt und Land sowie ein attraktives urbanes Leben zu verwirklichen.
Wie lassen sich aus diesen Erkenntnissen neue Handlungsräume erschließen? Eine einzige Sichtweise wird dem komplexen Veränderungsprozess nicht mehr gerecht. Daher kombinieren wir bei rpc Perspektiven soziologische, gestalterische und datengetriebene Ansätze zu einem interdisziplinären Austausch, der neue Sichtweisen schafft, Denkräume eröffnet und Handlungsmöglichkeiten schafft.
Über den Autor: Jan Schemuth ist seit 2015 Managing Director und CFO von rpc – The Retail Performance Company.
Dort ist er verantwortlich für die Betreuung von DAX 30-Unternehmen und gehobenen Mittelstand. In seiner Laufbahn sammelte Schemuth umfassende Erfahrungen im Management und in der Beratung, unter anderem bei A.T. Kearney, pepper technologies und im Privat- und Firmenkundenbereich der Deutschen Bank AG. Bevor er zu rpc -The Retail Performance Company wechselte, arbeitete der Diplom-Kaufmann über zehn Jahre in Management-Funktionen im Sales Channel Development und Retail Performance Management sowie in Strategie- und Marktentwicklungsfunktionen bei der BMW Group. (sg)
Lesen Sie auch: Metaversum: Deutschland fehlt noch die erforderliche digitale Infrastruktur
Aufmacherbild: Visualmind – Adobe Stock
Teilen Sie die Meldung „Multiversum: Wie Einzelhändler Inflation und Digitalisierung bewältigen können“ mit Ihren Kontakten: