S/4HANA-Migration: Wie Onlinehändlern der Umstieg gelingt
Die Migration von bestehenden SAP-ERP-Systemen zu S/4HANA ist auch für E-Commerce-Unternehmen unausweichlich, um künftig ein zeitgemäßes System zu nutzen. Dennoch ist die Branche beim Umstieg eher zögerlich und verzichtet auf viele Vorteile. Zeit, über die Relevanz der Migration zu reden.
Jeder kennt sie, die verheißungsvolle Deadline 2027, zu der SAP die Wartung der bestehenden ERP-Systeme einstellt. Angesichts der durchschnittlichen Dauer der Migration – Gartner rechnet bei größeren Unternehmen mit drei bis fünf Jahren – ist der Fortschritt bestehender SAP-Kunden eher ernüchternd. Auch im Jahr 2023 haben nur 20 Prozent der Unternehmen ihre Systeme bereits auf S/4HANA umgestellt. Bei Handelsunternehmen ist die Quote noch geringer: 88 Prozent der in einer Studie von LeanIX befragten Händler haben sich noch nicht mal für einen Ansatz für die S/4HANA-Migration entschieden. Dabei können sie auf die Funktionalitäten der Migration, wie Agilität und Performance-Steigerung, kaum verzichten. Im Gegenteil: Vor allem der E-Commerce kann sein Geschäft damit auf ein neues Level heben.
S/4HANA bietet mehr Sicherheit und Funktionalitäten
Die wohl wichtigsten Faktoren, die für die Migration sprechen, sind Sicherheit und Compliance. Mit dem Wartungsende erhält nur noch das S/4HANA-System Updates sowie neue Funktionen. Der Einsatz der bestehenden Lösung kann zu erheblichen Sicherheitsrisiken und Schwachstellen führen. Er öffnet Türen für Angreifer, die unbefugt Zugriff auf Unternehmensdaten erlangen können. Dieser potenzielle Datenverlust aber auch Compliance-Verletzungen führen wiederum zu Betriebsunterbrechungen, Reputationsverlust oder sogar rechtlichen Folgen.
S/4HANA bringt aber auch neue Vorteile für E-Commerce-Unternehmen mit sich. Die Branche kann durch die Migration ihre Prozesse nahtloser gestalten – vom Lager bis hin zur Customer Journey. Erfahrungen aus dem Markt zeigen, dass Unternehmen die notwendige Migration nutzen, um ‚alte Zöpfe‘ abzuschneiden. Ein „Clean Core“ macht das System flexibler und anpassbarer. Die Abläufe zwischen Vertrieb, Lager, Versand und Kundendienst verbessern sich durch eine optimierte Integration mit anderen Systemen. Durch die Migration können Unternehmen zudem Prozesse harmonisieren und standardisieren. Das neue System ist modularer aufgebaut, wodurch sich Standardfunktionen vielfältiger mit fach- oder branchenspezifischen Funktionen erweitern lassen. Eine schnellere Datenverarbeitung, die Prozesse wie Bestellabwicklung, Zahlungsabwicklung und Versand beschleunigt, verbessert die Benutzererfahrung.
Zudem erlaubt es die HANA-Datenbanktechnologie, Daten in Echtzeit zu nutzen und auszuwerten und damit schneller als je zuvor. Vorhersagen zum Kaufverhalten von Kunden, Lagerbeständen und Verkaufszahlen werden dadurch noch genauer und schneller verfügbar. Die Technologie ermöglicht auch Predictive Analytics vor allem für die Bereiche Kundenverhalten und Produktverfügbarkeit. Anbieter können entsprechende Maßnahmen für eine bessere Customer Experience ableiten sowie personalisierte Angebote und Empfehlungen erstellen. Durch die hohe Skalierbarkeit sind sie in der Lage – anders als bei vorherigen Lösungen – auch auf erhöhte Transaktionsvolumina und Benutzerinteraktionen schnell zu reagieren.
Hohe Komplexität und viele Stakeholder
Dass die Migration für E-Commerce-Unternehmen nicht nur obligatorisch, sondern auch vorteilhaft sein kann, ist unbestreitbar. Doch warum hinkt die Branche dann so hinterher? Viele Unternehmen stehen schon bei der Festlegung der Zielarchitektur und der Roadmap vor den ersten großen Herausforderungen. Handelsunternehmen haben ihre Schwerpunkte anderswo, und intern fehlt häufig das IT-Fachwissen und die Routine, um derartige Großprojekte erfolgreich zu steuern.
Eine weitere Hürde ist die Identifikation von gegenseitigen Abhängigkeiten von allen ERP-Systemen. Denn oft sind mehr als ein System und verschiedene Anbieter im Einsatz. Das sorgt für eine enorme Komplexität, die durch die verschiedenen involvierten Stakeholder und Teams noch einmal verstärkt wird. Denn der Umstieg ist kein reines IT-Projekt, sondern betrifft auch die Fachabteilungen im Unternehmen. Diese erkennen im Tagesgeschäft häufig Optimierungspotenziale, die sich bei der Umstellung auf ein neues System bezahlt machen und zu mehr Wertschöpfung beitragen könnten.
Im E-Commerce sind zahlreiche Fachbereiche an der Prozesskette der Migration beteiligt – vom Materialmanagement, der Warenwirtschaft und Logistik über Sales und Marketing bis hin zum Verkauf und Customer Service. Begleitet wird der Prozess durch ein dediziertes IT-Team und bestenfalls in Zusammenarbeit mit Spezialisten, die die gesamte Transformation begleiten. Denn die Migration ist nicht nur technologisch zu verstehen, sondern oft eine gesamte Business Transformation. Dafür holen sich Unternehmen oft erfahrene Partner, die sich in der Branche auskennen und sowohl strategisch als auch technologisch unterstützen.
Die Wahl des richtigen Ansatzes bei der S/4HANA-Migration
Bei der Umstellung auf SAP S/4HANA bieten sich unterschiedliche Migrationsansätze an: Brownfield, Greenfield und Bluefield. Wie sich die drei Ansätze voneinander unterscheiden:
Brownfield: Dieser Ansatz umfasst die 1:1-Conversion der bestehenden Systeme in die neue S/4HANA-Systemumgebung. Er bietet sich an, wenn bestehende Prozesse beibehalten werden und nur wenige Add-ons für die Eigenentwicklung genutzt werden. Voraussetzung dafür ist ein umfassendes, aktuelles Lastenheft und, dass die Umsetzung als Big Bang möglich ist, also in einem Schritt. Der Ansatz birgt allerdings operative Risiken, sowohl im Hinblick auf die Downtime als auch auf den Big Bang. Denn Fehler in der Umsetzung können zu einer längeren Umstellungszeit führen, die wiederum mit einer längeren Downtime einhergeht. Gerade für Unternehmen mit 24/7-Betrieb ist das schwierig. Bei diesem Ansatz besteht außerdem immer die Gefahr, dass etwas nicht funktioniert, und das Unternehmen stillsteht, bis das Problem gelöst ist.
Greenfield: Der Greenfield-Ansatz setzt auf eine Neuinstallation von SAP S/4HANA. Er bietet sich bei komplexen Systemlandschaften an, um End-to-End-Prozesse zu verbessern und die Customer Journey nahtlos einzubinden. Er ist als umfänglicher Transformationsansatz zu verstehen, in dem Prozesse neu gedacht werden. Die Umstellung erfordert mehr Training und Change-Management als beim Brownfield-Ansatz und kann – je nach Systemlandschaft – sehr aufwendig und zeitintensiv ausfallen. Er bietet aber auch das größte Optimierungspotenzial, gerade wenn im alten System bereits Verbesserungsmöglichkeiten, Lücken oder Prozessbrüche zu erkennen waren.
Bluefild-Ansatz als Mittelweg
Bluefield: Der Mittelweg erlaubt es Unternehmen, das Beste aus den beiden Ansätzen zu nutzen und einen individuellen Weg zu gehen. Man kann Bewährtes erhalten und individuelle Systemoptimierungen vornehmen sowie gleichzeitig unnötigen Ballast abwerfen und nur ausgewählte Daten mitnehmen.
Welcher Ansatz der Richtige ist, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Wichtig ist, die Ausgangslage und daraus resultierende Anforderungen zu Beginn des Projektes genau zu analysieren und zu evaluieren. Oft greifen Unternehmen dabei auf die Erfahrungen von etablierten Experten zurück, um von bestehenden Best Practices in der Branche zu profitieren und die Migration erfolgreich und schnell zu meistern.
Richtigen Migrationsansatz wählen
Folgende Merkmale sollten bei der Wahl des richtigen Ansatzes berücksichtigt werden:
- ERP-Systeme: Wie viele ERP-Systeme sind im Einsatz und wie viele davon sind von SAP? Welche weiteren SAP ERP-Systeme gibt es im Unternehmen und sind diese bereit für S/4HANA?
- Downtime: Wie stelle ich eine minimale Downtime sicher? Kann man die Downtime besser bei einer Umstellung in einem Schritt (Big Bang) oder nach und nach mit dem schrittweisen GoLive-Ansatz minimieren?
- Business Applikationen und Microservices: Welche weiteren Anwendungen gibt es im Unternehmen und welche Microservices werden genutzt, beispielsweise für die Customer Journey? Lassen diese sich auch mit S/4HANA integrieren?
- Funktionalitäten: Welche Funktionalitäten nutze ich in SAP ERP z.B. im Warehouse-Management (WM), welche benötige ich weiterhin, welche können entfallen, welche neuen Funktionen bietet vielleicht das neue EWM in S/4HANA? Wie groß sind die Unterschiede zwischen dem jetzigen System und meiner Zielvorstellung?
- Add-ons: Wie viele Add-ons von Drittanbietern sind im Einsatz? Sind diese kompatibel zu S/4HANA? Wenn nein, planen die Anbieter Komptabilität der Add-ons? Oder werden sie möglicherweise durch neue S/4HANA Funktionen schon abgedeckt?
- Eigenentwicklung: Wie viele Eigenentwicklungen enthält mein aktuelles SAP ERP? Wenn es Customer Codes mit mehreren Millionen Zeilen enthält: Wie kann man diese in S/4HANA überführen? Werden diese weiter benötigt oder können sie durch neue Funktionen in S/4HANA ersetzt werden?
- Überblick: Wie gut ist mein Überblick über alle Systeme und bestehen vollständige Lastenhefte und Prozessdokumentationen? Gibt es blinde Flecke?
- Zufriedenheit der Mitarbeitenden: Sind die Mitarbeitenden zufrieden mit der jetzigen Systemumgebung oder sehen sie viele Baustellen? Wären sie für Veränderungen bereit?
- On-Premise oder Cloud: Soll das System weiterhin On-Premise laufen oder ist ein Wechsel in die Cloud geplant?
Über die Autorin
Katrin Wischhusen blickt auf mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung im SAP-Umfeld zurück. Derzeit ist sie Managing Partner bei der Unternehmensberatung KPS AG und verantwortet dort zahlreiche Transformationsprojekte im Handels-Sektor rund um die Anwendungsfelder Programm Management, Business Process Optimization, Customizing und SAP-Implementierung. Aktuell hat sie sich auf das Thema der S/4HANA-Transformation spezialisiert.
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