30.11.1999 – Kategorie: Fertigung, IT, Kommunikation, Management, Marketing, Technik

Usability Matters – Software-Entwicklung im Spannungsfeld von Design und Nutzungsqualität

Marketingabteilungen sprechen gerne neudeutsch vom innovativen „Look and Feel“ eines Produktes – besonders im IT-Umfeld. Während mit „Look“ das Design der Lösung gemeint ist, bezieht sich „Feel“ auf die Usability, die Nutzungsqualität. Hersteller von Content Management Systemen (CMS) und anderen Unternehmens-IT-Lösungen müssen den Spagat schaffen und die hohen Anforderungen der Anwender in beiden Bereichen erfüllen. Doch seit Jahren lässt sich ein starker Trend beobachten: Es gibt einen Zwang zu modernem, „coolem“ Produktdesign, dem die Usability zumindest untergeordnet wird, was oftmals zu einer Verschlechterung derselben führt.

Ein Beispiel soll diesen Trend veranschaulichen: Apple setzt Design-Maß;stäbe, denen andere Anbieter folgen. Microsoft hat etwa den Shut-down-Vorgang von Windows nach Mac OS-Vorbild umgestellt und so findet sich anstelle eines Drop-Down-Fensters auch bei Windows-Computern inzwischen eine übersichtliche Anordnung der Auswahlmöglichkeiten nebeneinander.

Was wie eine Verbesserung der Funktionalität erscheint – mehr Übersichtlichkeit – entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine Verbesserung des Designs auf Kosten der Funktionalität. Denn das „uncoole“ Drop-Down-Menü, über das Windows-Nutzer zuvor den PC herunterfahren konnten, hat sich stets die zuletzt gewählte Aktion „gemerkt“ und dem Anwender beim nächsten Aufruf wieder vorgeschlagen – da der Normaluser in den allermeisten Fällen an dieser Stelle stets das gleiche machen will, nämlich seinen Computer herunterfahren, braucht er die Vorauswahl nur zu bestätigen. Es ist für ihn gar nicht notwendig und sinnvoll, hier alle zur Verfügung stehenden Aktionsoptionen auf einmal und nebeneinander zu sehen. Das Drop-Down-Menü bietet in diesem Fall eine viel höhere Benutzerfreundlichkeit als das allgemein als „schöner“ empfundene neue Fenster, bei dem jedes Mal eine neue Auswahl getroffen werden muss.

Design + Usability im Auge des Nutzers

Das Beispiel macht deutlich: Nutzer ziehen anhand des Designs automatisch Rückschlüsse auf die Funktionalität und beurteilen die Qualität eines Produkts nach dem optischen Eindruck. Sie vermischen die beiden Bereiche Design und Usability. Deshalb setzen Anwender einer Software altmodisches Design, etwa einer Benutzeroberfläche, mit alter Technologie gleich. Die Folge: Das Produkt wird nicht gekauft, selbst wenn dahinter eine extrem funktionale Lösung steht, denn die antiquierte Optik schreckt ab. Anwender verhalten sich so, als sei das Design wichtiger als die Usability. Und das hat negative Auswirkungen auf die Ausgestaltung der Usability.

Hersteller und Systemintegratoren müssen bei ihrer Arbeit also berücksichtigen, dass die Benutzererfahrung das Ergebnis aus dem Zusammenspiel von Design und Usability ist. Sie müssen im Entwicklungs- beziehungsweise Implementierungsprozess erkennen, wo die Gefahr besteht, das eine auf Kosten des anderen zu vernachlässigen, um entsprechend gegensteuern zu können.

Altes Design = alte Technologie? Altmodische Benutzeroberflächen werden mit schlechter Qualität gleichgesetzt

Bei der Einführung einer neuen Software, zum Beispiel eines Content Management Systems (CMS) mit dem ein Unternehmen seinen Inter- und Intranetauftritt samt Portalintegration umsetzen will, wirken sich viele Punkte auf das letztlich realisierte Maß; an Usability aus. Aber weder die Designvorschläge noch die Auswahl eines Implementierungspartners sind maß;geblich entscheidend. Größ;te Auswirkungen auf die Usability hat der Zeitfaktor. Sind die Projektplanungen unrealistisch, dann wird die Einhaltung einer Deadline viel wichtiger als die spätere Nutzungsqualität bei der Interaktion mit dem System. Unter Zeitdruck können Entwickler und Projektteams die Usability für die Redakteure, die mit dem CMS arbeiten werden, aus dem Blick verlieren.

Die Online-Redakteure können wiederum nicht einschätzen, wie viel oder wenig Aufwand nötig ist, um Arbeitsprozesse im System für sie deutlich zu vereinfachen oder abzukürzen, da ihnen das technologische Know-how fehlt. Um herauszufinden, wo Usability-Defizite bestehen, empfiehlt es sich deshalb, das Projekt vier bis sechs Wochen nach dem Launch von einen Usability-Experten prüfen zu lassen und zu untersuchen, wie die Redakteure mit dem CMS arbeiten. So wird offensichtlich, wo durch Anpassung der Templates, z.B. durch sinnvolle Vorauswahl- und Default-Einstellungen, die Benutzerfreundlichkeit und damit die Effizienz weiter gesteigert werden kann.

Grenzen für mehr Nutzerfreundlichkeit

Usability ist Nutzer-spezifisch. Der Benutzer muss die Konzepte, die für die Nutzungsqualität sorgen, (er-)kennen, damit er sie annehmen und verwenden kann. Das vorhandene konzeptionelle Wissen ist aber individuell sehr unterschiedlich und deshalb bewerten die Nutzer die Usability eines Systems auch oft sehr unterschiedlich – während ein Mitarbeiter wunderbar mit einer Software klar kommt, ist ein anderer unzufrieden und findet das System umständlich. Dabei kennt er schlicht weder die geeigneten Prozesse noch den vollständigen Funktionsumfang, die ihm die Arbeit erleichtern und ihn viel schneller ans Ziel bringen würden. Sein konzeptionelles Wissen ist also nicht ausreichend.

Ein simples Beispiel: Ein gleichschenkliges Dreieck, das mit einer Spitze nach rechts zeigt, ziert Startknöpfe vieler technischer Geräte: ►. Dahinter steht das Konzept des Abspielens, das aus Zeiten stammt, in denen es noch Tonbänder gab, die tatsächlich in die angezeigte Richtung abgespielt wurden. Dieses Konzept der Abspielrichtung wird mit dem Dreieck verknüpft und so weit verinnerlicht, dass das Zeichen losgelöst vom Ursprungskontext auch in anderen Zusammenhängen allgemein als Symbol für das Starten von etwas erkannt wird – auch wenn das entsprechende Gerät gar keine Bänder von links nach rechts abspult, wie ein MP-3-Spieler.

Kommt das Symbol in ganz anderen Bereichen zum Einsatz, etwa bei einem modernen Backofen, dessen Bedienfeld mit dem Dreieck-Startknopf aktiviert wird, so setzt der Hersteller voraus, dass das Symbol bekannt ist und der Anwender die Transferleistung erbringt und das Konzept des Startens auch bei einem Backofen anwenden kann. Eine Person, die mit dem Symbol jedoch nicht vertraut ist, weil sie sich nie für Unterhaltungselektronik interessiert hat, wird weder den Herd noch andere Geräte mit diesem Startsymbol bedienen können. Sie muss das Konzept erst lernen. Daraus folgt: Die Usability von Systemen oder Produkten kann sich nicht schneller entwickeln, als die Nutzer Konzepte lernen können.

Bänder im Ofen? Hersteller setzen beim Nutzer Transferleistungen voraus.

Was bedeutet das aber nun für die Usability von CMS-Lösungen? Hersteller von benutzerfreundlichen Content Management Systemen sind gefordert, die Lösung so einfach wie möglich zu machen. Aber eben auch nicht einfacher. So sorgen sie dafür, dass das Produkt den Redakteuren ein Höchstmaß; an intuitivem Arbeiten ermöglicht. Aber bei einer professionellen Lösung gibt es Gestaltungsgrenzen für die Intuitivität. Das CMS deckt hochkomplexe Prozesse ab und ist tief in die IT-Infrastruktur aus Unternehmensportal, mehreren Datenbanken, Shopsystemen, CRM-Lösungen usw. integriert.

Es verwaltet Inhalte für zigtausende Seiten in allen denkbaren Sprachen und veröffentlicht Content länderspezifisch und personalisiert unter Berücksichtigung konzernweiter Corporate Design-Vorgaben. Deshalb gibt es einen Punkt, über den hinaus das System schlicht nicht vereinfacht werden kann, ohne die Funktionalität und Leistungsfähigkeit zu beeinträchtigen. Man braucht als Anwender ein spezifisches konzeptionelles Wissen, um ein professionelles CMS einzusetzen – selbst, wenn sich die Lösung durch besondere Intuitivität auszeichnet. Ohne die Konzepte zu lernen, kann eine Software sogar „kontra-intuitv“ sein.

Anwender – dazu zählen Redakteure und Template Entwickler genauso wie Integratoren – sollten deshalb in Schulungen trainieren, das System effizient zu nutzen. Ausführliche Produkt-Dokumentationen vermitteln ebenfalls das zugrunde liegende konzeptionelle Wissen. Es empfiehlt sich, die Dokumentation auch tatsächlich zu lesen – was viele User nicht tun, weil sie davon ausgehen, dass sie als „Profis“ alle Funktionen bereits kennen oder sich intuitiv erschließ;en können. Wenn sie das System nicht verstehen, können sie so der Software die Schuld für die schlechte Usability geben. Haben sie aber die Dokumentation gelesen und verstehen das System trotzdem nicht, dann müssten sie die Schuld bei sich selbst suchen.

Fazit: Usability does matter!

Gerade vor dem Hintergrund, dass Anwender Designaspekte zunehmend vor Nutzungsqualität stellen beziehungsweise beide Bereiche vermischen, müssen Hersteller und Implementationspartner von Software-Lösungen bei Designvorschlägen stets den Usability-Wert hinterfragen. Sie müssen genau analysieren, wie ein Höchstmaß; an Benutzerfreundlichkeit realisiert werden kann, ohne dabei den „Look“ zu vernachlässigen. Anbieter dürfen auch das konzeptionelle Wissen der User nicht auß;er Acht lassen – Innovationen, die auf möglichen neuen Konzepten aufbauen, müssen gelehrt und gelernt werden, damit die Anwender die Verbesserung der Usability auch erkennen und davon profitieren können. Design, konzeptionelles Wissen und Benutzerfreundlichkeit: Darauf kommt es eben gleichermaß;en an.

(Autor: Jörn Bodemann, Vorstandsvorsitzender der e-Spirit AG)

Info: www.e-spirit.com/de


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